2019        'Von wegen Held: Michael Wollny und Alex Nowitz sezieren Beethoven'

"Wenn sich Pianist Michael Wollny und Stimmkünstler Alex Nowitz mit Ludwig van Beethoven und dessen 3. Sinfonie „Eroica“ beschäftigen, sind unkonventionelle Abstraktionen zu erwarten. Immerhin zählt Wollny europaweit zu den phantasievollsten Jazz-Pianisten unserer Zeit, während Nowitz als querdenkender Komponist, Impulsgeber für ein elektronisches Instrument namens Strophonion und Countertenor an der Berliner Schaubühne, der Staatsoper Unter den Linden und weiteren renommierten deutschen Theaterhäusern aufgefallen ist. [...] Romantische Momente bleiben relativ rar, sie werden zuweilen von Wollny oder Nowitz mit ironischem Unterton versehen. Durchweg ernsthaft, über eine gewisse Spanne beinahe meditativ wirkt hingegen Alex Nowitz' ausgeklügeltes Solo mit dem Strophonion. Mittels komplizierter Technik entlockt er ihm moderne synthetische Sounds, Mikrotöne und Schwingungen. Ein Orchestersample leuchtet auf und zerfließt unter Nowitz' Händen zu Klangschlieren, daraus formt er rhythmische, an Steve Reichs Minimalismus erinnernde Strukturen. Intensiven Countertenor-Melismen folgen Andeutungen von Streichern, die sich wiederum in synthetischen Orgel-Anmutungen auflösen. Vielleicht noch überraschender als die nuancierten Klangereignisse ist die Vielzahl der Texte. Alex Nowitz trägt sie lebendig vor, changiert dabei zwischen den Rollen eines mal neutralen, mal emotional bewegten Erzählers und des leidenden Beethoven, der aufgrund seiner sich abzeichnenden Taubheit sein Heiligenstädter Testament verfasst. Pointiert setzt Nowitz theatralischen Ausdruck ein, von Flüstern über aufbrausenden Gestus bis zu karikierender Überspitzung. Zeitweise versetzt er seine Wörter in rhythmischen Fluss, der wiederum von Wollnys spielerisch aufgenommen und reflektiert wird. In manchen Passagen zerhäckselt Nowitz Worte zu gestotterten Silben oder verwandelt sie in bizarre Lautmalereien. Durchdachte, gleichwohl sinnliche Musik, ein intuitives, eng verzahntes Zusammenspiel und hintergründige Texte fügen sich zu einem komplexen und schlüssigen Gesamtkonzept. [...] Auch Nowitz eigene Texte äußern kluge Gedanken. In „(H)ero(t)ica“ spießt er Beethovens aus heutiger Sicht übertriebenes Heldenpathos auf, unterwandert es mit skurrilem Wortwitz und vollzieht unerwartet Gedankensprünge zur aktuellen Auseinandersetzungen über die Festung Europa. Schließlich wirft Nowitz die Frage nach heutigen Helden auf, kommt vom Hollywood-Kino auf Avatare des Cyberspace und stellt sarkastisch fest, dass analoge Helden für digitale Aufklärung 125 Jahre ins Gefängnis sollen. Einem fast verzweifelt herausgeschleuderten „Lasst mir meine Gewohnheiten“ folgt das lakonische Fazit, alle Helden seien letztlich „Momentan-Täter“."

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23 September 2019
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